Talentknappheit gilt als die aktuell grösste Wachstumsbremse. (Bild: Pexels LosMuertos Crew)
Wenn wir jetzt nicht handeln, wird sich der in der Schweiz herrschende Fachkräftemangel nicht entschärfen. Dies zeigt der Fachkräftemangel-Index Schweiz der Adecco Group, der in Zusammenarbeit mit dem Stellenmarkt-Monitor Schweiz (SMM) am Soziologischen Institut der Universität Zürich erstellt wurde. Nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie entspannte sich der Fachkräftemangel zunächst deutlich und erreichte 2021 einen Tiefstand (92 Punkte).
2022 führte jedoch die schrittweise Lockerung der Corona-Massnahmen zu wirtschaftlichen Nachholeffekten. Dadurch stieg die Zahl der Stellenanzeigen, während die Zahl der Stellensuchenden gleichzeitig sank. Aufgrund dessen erreichte der Adecco-Fachkräftemangel-Index 155 Punkte. Ein erstmalig verzeichneter Rekordwert – um 68 % über dem Wert von 2021 und um 21 % über dem Wert im Vorkrisenjahr 2019.
Wie Sie sicher wissen, sind Stellen im Gesundheits- und Ingenieurwesen sowie in der IT aktuell besonders schwierig zu besetzen. Eine Verbesserung der Lage ist auch nicht in Sicht. Wir von Staffing Industry Analysts (SIA) haben Führungskräften europäischer Personaldienstleister folgende Frage gestellt: «Was ist Ihrer Meinung nach die grösste Wachstumsbremse, die ein schnelleres Wachstum Ihres Unternehmens verhindert – heute und in zehn Jahren?» 40 % der Befragten nannten «Talentknappheit» als die aktuell grösste Wachstumsbremse. Und überwältigende 63 % gaben an, dass dies auch in zehn Jahren noch ein grosses Problem sein würde.
Was tun Unternehmen also gegen dieses Problem? SIA führt bei Unternehmen, die in Europa Personaldienstleistungen einkaufen, eine jährliche Umfrage durch. Wir fragten sie: «Welche der folgenden Massnahmen haben Sie in den letzten 12 Monaten zur Bekämpfung der Talentknappheit ergriffen?» Die von den befragten Unternehmen am häufigsten ergriffene Massnahme (63 %) war eine Erhöhung der Löhne, wobei in der Finanz- und Versicherungsbranche sogar 89 % der Unternehmen auf diese Massnahme zurückgriffen.
Zu weiteren Massnahmen, die von den meisten Befragten ergriffen wurden (von 54 % insgesamt und von 100 % der Ingenieurbüros), gehören der Wechsel zu einem anderen Anbieter (Personaldienstleister, MSP, Talentplattform, Jobbörse oder andere Arbeitsvermittler) und eine grössere Flexibilität beim Einsatz mobiler Temporärarbeitender, die remote arbeiten (52 %).
Zu den Massnahmen, die weniger als 50 % ergriffen, gehörten eine Neuausrichtung hinsichtlich der Art der Temporärarbeit (31 %), eine Ausweitung des Einsatzradius und eine Erhöhung der Margen/Preisaufschläge. Nur 11 % der Unternehmen gaben an, dass sie 2022 keine Massnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ergriffen haben, was bestätigt, dass Talentknappheit weit verbreitet ist.
Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Remote Work haben wir gefragt, wie viel Prozent der Temporärarbeitenden zum Zeitpunkt der Umfrage remote oder hybrid (eine Mischung aus Arbeit vor Ort im Büro und Remote Work) arbeiten. Insgesamt arbeiteten im Durchschnitt 50 % der Temporärarbeitenden remote und 20 % hybrid. Auf die Frage, wie es in zwei Jahren aussehen würde, hiess es, man rechne mit 30 % in beiden Bereichen.
Es gibt jedoch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen. In Unternehmen, die in erster Linie Ingenieure beschäftigen, sind derzeit 60 % der Arbeitnehmenden remote tätig, während es in Unternehmen, die hauptsächlich im Industriesektor tätig sind, nur 5 % sind. Dies wird sich voraussichtlich auch in den nächsten zwei Jahren nicht ändern. Man geht von 40 % Remote Work im Ingenieurwesen und 3 % in der Industrie aus.
In Europa erreichte der Anteil interner Mitarbeitender, die remote arbeiten, 2021 mit 70 % einen Höchststand. 2022 sank dieser Anteil auf einen Mittelwert von 23 %. Auf etwa diesem Niveau wird er in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich bleiben. Wie beim Einsatz von Temporärarbeitenden gibt es jedoch auch beim Einsatz interner Mitarbeitender, die remote arbeiten, grosse Unterschiede zwischen den Personaldienstleistern.
Quelle: SIA. Adam Pode, CCWP, arbeitet mit der World Employment Confederation und swissstaffing, um den Pulsschlag der Branche zu messen.
Die befragten Personaldienstleister äusserten sich vorsichtig positiv hinsichtlich der Auswirkungen von Remote Work auf ihre Geschäftstätigkeit. 21 % der Unternehmen gaben an, dass sich Remote Work durch Temporärarbeitende insgesamt positiv auswirkt, 70 % bezeichneten die Auswirkungen als neutral und nur 9 % als negativ. Gleichermassen gaben 24 % der Unternehmen an, dass sich Remote Work durch interne Mitarbeitende insgesamt positiv auswirkt, 60 % bezeichneten die Auswirkungen als neutral und 16 % als negativ.
In Bezug auf Remote Work gehörten sowohl bei den Temporärarbeitenden als auch bei den internen Mitarbeitenden die vereinfachte Rekrutierung und die höhere Mitarbeiterzufriedenheit/-bindung zu den wichtigsten positiven Faktoren. Bei den internen Mitarbeitenden trugen auch die geringeren Kosten zum insgesamt guten Ergebnis bei. Die Unternehmen gaben auch an, dass sie Temporär- und interne Mitarbeitende dank Remote Work bei der Stellenvermittlung manchmal auch überregional einsetzen können.
Remote Work bringt aber auch einige operative Herausforderungen mit sich. Bei Temporärmitarbeitenden wurden beispielsweise die Auswirkungen auf das Onboarding negativ bewertet; bei internen Mitarbeitenden erhielten folgende drei Faktoren eine negative Bewertung: Personalausbildung und Personalentwicklung, interne Kommunikation und Teamgeist/Zusammenarbeit.
Auf die Frage nach den Best Practices, die Unternehmen im Umgang mit Remote Work empfehlen können, wurden folgende Empfehlungen gemacht: den Schwerpunkt auf die Kommunikation legen – sowohl beim Reporting als auch beim Support. Sicherstellen, dass den Mitarbeitenden ein adäquater Arbeitsbereich und eine adäquate technische Ausrüstung zur Verfügung stehen. Festschreiben klarer und ausführlicher Arbeitsvereinbarungen. Beratung der Kundinnen und Kunden in Bezug auf die Vorteile von Remote Work. Ausserdem wurden juristische Überprüfungen empfohlen, zumal «remote» auch bedeuten kann, dass Arbeiten aus dem Ausland verrichtet werden.
Unabhängig von Remote Work zeichnet sich im Kampf um das Rekrutieren und Halten von Talenten ein neuer Trend ab: Kreativität im Bereich Payrolling. Bislang war die Personaldienstleistungsbranche im Bereich Payrolling wenig innovativ. Ein monatliches Gehalt ist nach wie vor die Norm auf dem Markt.
Letzten Juni hat die internationale Jobplattform für Temporärstellen «Jobandtalent» jedoch 250 Millionen US-Dollar aufgebracht, um flexible Zahlungsbedingungen für Arbeitnehmende zu schaffen. Das Unternehmen erklärte, dass es dank diesem Geld leichter spürbare Vorteile bieten und «die Grundlage für die Schaffung innovativer Finanzprodukte» für Arbeitnehmende verbessern könne. Dies ermöglicht beispielsweise tägliche Zahlungen und einen kostenlosen frühzeitigen Zugang zu den Löhnen (gilt für die meisten Gerichtsbarkeiten).
Bei der niederländischen Talentplattform Young Ones erhalten Freelancer über einen Finanzpartner Direktzahlungen und können sich so ihr Gehalt gegen eine geringe Gebühr sofort auszahlen lassen. Ähnliche Kooperationen mit Finanzpartnern werden sich in Zukunft wahrscheinlich auch bei Personaldienstleistern vermehrt durchsetzen.
Insgesamt mögen einige der oben genannten Massnahmen etwas kurzfristig erscheinen. Zudem könnten längerfristige Massnahmen in Bezug auf Einwanderung, Lernen und Entwicklung sowie technische Lösungen erforderlich werden. Doch ob kurz- oder langfristig – entscheidend ist, dass wir jetzt handeln, wenn wir in Zukunft grössere Probleme vermeiden wollen.